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November/Dezember

Fund des Monats > 2024

Zugfensterblicke von Max Brod und Franz Kafka
beschrieben im ersten Kapitel des (ursprünglich vorgesehenen, jedoch nicht weitergeführten) Textbandes »Richard und Samuel – Eine kleine Reise durch mitteleuropäische Gegenden«. Erschienen in:
Herderblätter 1 (1912). No.3, S. 15-25
Franz Kafka unternahm gemeinsam mit Max Brod zwischen 1909-1912 mehrere Bahnreisen durch Europa . „[…] die bereisten Länder […] in einer Frische und Bedeutung sehn zu lassen, wie sie oft mit Unrecht nur exotischen Gegenden zugeschrieben werden: ist der Sinn dieses Buches“


Franz Kafka
(rechts) - starb vor 100 Jahren - am 3. Juni 1924

“Langdauernde Aussicht auf den von den Zugslichtern beleuchteten und geglätteten Boden-see bis hinüber zu den fernen Lichtern der jenseitigen Ufer, finster und dunstig.
Mir fällt ein altes Schulgedicht ein »Der Reiter über den Bodensee«. Ich verbringe eine hübsche Zeit damit, es mir aus dem Gedächtnis wiederherzustellen. […]”.
“Es ist Sonntag, fünf Uhr früh, 27. August. Alle Fenster noch geschlossen, alles schläft. […], während das Land draussen in natürlicher Weise, die man nur aus einem Nachtzug heraus, unter einer weiterbrennenden Lampe, richtig beobachten kann, sich entschleiert.
Es ist zuerst von den dunklen Bergen als besonders schmales Tal zwischen ihnen und unserem Zug hergeschoben, dann durch den Morgendunst wie durch Oberlichtfenster weisslich aufgehellt, die Matten erscheinen allmählich frisch, wie nie zuvor berührt, saftig grün, was mich in diesem trockenen Jahr sehr in Erstaunen setzt, endlich erbleicht das Gras bei steigender Sonne in langsamer Verwandlung –. Bäume mit schweren grossen Nadel-ästen, die längs des ganzen Stammes bis zum Fusse wiederwallen. Solche Formen sieht man häufig in Bildern Schweizer Maler und ich hielt sie bis heute für nichts als stylisiert.
Eine Mutter mit ihren Kindern beginnt auf der saubern Strasse den Sonntagspaziergang.
Das erinnert mich an Gottfried Keller, der von seiner Mutter erzogen wurde.

Im Wiesenland überall die sorgfältigsten Zäune; manche sind aus grauen wie Bleistifte zugespitzten Stämmen gebaut, oft aus halbierten solchen Stämmen. So teilten wir als Kinder Bleistifte, um den Graphit herauszubekommen. Derartige Zäune habe ich noch nie gesehn. So bietet jedes Land Neues im Alltäglichen und man muss sich hüten, der Freude über solche Eindrücke nachgebend das Seltene zu übersehn. […]“.
“Die Schweiz überrascht durch die alleinstehenden, daher scheinbar besonders aufrechten selbstständigen Häuser in allen Städtchen, Dörfern längs der ganzen Eisenbahnstrecke. Keine Gassenbildung in St. Gallen. Vielleicht drückt sich darin der gut deutsche Partikularismus jedes Einzelnen aus, – von Terrainschwierigkeiten unterstützt. Jedes Haus mit seinen dunkelgrünen Fensterläden und viel grüner Farbe in Fachwerk und Geländer hat einen villenähnlichen Charakter.”


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